Bevor ihr direkt anfangt zu stöhnen, weil der Grund fürs Interview mit Max Simonischek sein Mitwirken als Staatsanwalt Rolf Rehberg in der Literaturverfilmung „Stiller“ ist: Vielleicht erinnern wir dieses Roman deswegen als so anstregend, weil wir in der Schulzeit zum Lesen gezwungen wurden? Ich vermute fast, würde ich „Stiller“ heute lesen, er würde, ebenso wie der Film, viele spannende Fragen in mir auslösen, über die die Reflexion sich unbedingt lohnt. Zum Glück durfte ich einige dieser Fragen an Max Simonischek stellen.
Ich mag es grundsätzlich, Menschen beim Denken zuzuhören. Liegt vermutlich nahe, so als Journalistin. Bei Max Simonischek war es mir aber eine besondere Freude, denn der Schauspieler hat sich auf all meine Fragen eingelassen und so tiefsinnige Antworten gegeben, dass ich hoffe, dass euch das Gespräch eine Weile begleiten wird. Wenn ihr euch „Stiller“ im Kino anschaut, dann schreibt mir danach gern, wie er euch gefallen hat. Denn, auch das besprechen Max und ich: Selbst wenn er euch nicht gefällt, können wir darüber ja diskutieren. Also, nur Mut, lasst euch auf dieses Interview ein und dann unbedingt auch auf „Stiller“ im Kino.
Beginnen wir doch direkt mit einem Geständnis: In der Schulzeit habe ich mich durch „Stiller“ eher gequält. In eurem Film war das gar nicht so. Denn der ist spannend und erlaubt es einem, sich mit ganz vielen Fragen im eigenen Tempo auseinanderzusetzen.
Max Simonischek: Ich habe den „Stiller“ im Deutschleistungskurs das erste Mal gelesen und muss ehrlich gestehen, dass ich da etwas überfordert war von der Thematik und auch von der Vielschichtigkeit.
Zur Vorbereitung des Films habe ich das Buch dann nochmal gelesen und gemerkt, dass man, je nachdem, wo man im Leben selbst gerade steht, einen ganz anderen Zugang zu diesen tief philosophischen und vielschichtigen Fragen, die da aufgeworfen werden, hat.

Dann ist der Tipp für alle, die sich vielleicht erst mal ganz zart an „Stiller“ heranwagen wollen: Erst den Film schauen und dann zum Buch greifen. Denn im Roman gibt es ja doch noch deutlich mehr zu entdecken. Auch dein Staatsanwalt Rolf nimmt im Buch ja eine viel größere Rolle ein als jetzt im Film.
Ich will das gar nicht so auf meine Rolle reduzieren. Es ist ja auch klar, dass, wenn man einen Roman von 450 Seiten auf 99 Minuten Film runterkürzt, da einiges verloren geht. Das trifft nicht nur bei „Stiller“ zu, sondern bei vielen Literaturverfilmungen.
Dieser Roman lebt meines Erachtens von dieser vielschichtigen Beziehungsverstrickung der unterschiedlichen Figuren. Es ist eigentlich wie bei einer modernen US-amerikanischen Serie, die ja auch von den Nebenfiguren und den ganzen Nebensträngen lebt, die da noch erzählt werden.
Abgesehen davon wird der Roman auch aus den verschiedensten Perspektiven erzählt, nicht, wie im Film, nur von Stiller. Bei dem geht es vor allem um die Identitätsfrage. Im Buch kommen aber auch die Perspektiven vom Staatsanwalt, vom Anwalt, von Julika und am Ende sogar von Stillers Vater zum Tragen. Diese unterschiedlichen Figuren haben auch alle unterschiedliche Themen, die sie beschäftigen.
Nehmen wir meinen Staatsanwalt: Da hat Max Frisch versucht, ein sehr modernes Beziehungsbild zu skizzieren. Die versuchen wirklich, eine offene Ehe zu führen, und überleben es am Ende auch als Paar. Das geht im Film ein bisschen verloren, da stimme ich dir zu.
Positiv ausgedrückt bedeutet es aber auch: Der Film fokussiert sich sehr auf die Frage: Kann ich vor meiner Verantwortung fliehen? Kann ich meine Identität ablegen und ändern, welches Bild die Gesellschaft von mir hat? Gibt es diesen Reset-Knopf, und kann ich damit einen Neuanfang wagen? Diese Fragen beschäftigen die anderen Figuren nicht so sehr, weswegen der Regisseur Stefan Haupt den Stiller so in den Mittelpunkt rückt.

Die Fragen, die du gerade angesprochen hast, sind ja auch total aktuell. Wir werden in den sozialen Medien ja immer wieder mit Versprechen wie „Du kannst dich jederzeit neu erfinden“ oder „Sei deines eigenen Glückes Schmied“ konfrontiert. Und wir sehen auch nur kuratierte Ausschnitte von den anderen, denn niemand zeigt auf Social Media sein wahres Ich.
Bevor ich auf deine Frage antworte, möchte ich noch einen wichtigen Gedanken äußern: Für mich zeichnet zeitlose Weltliteratur, sei es Frisch oder auch Kafka, aus, dass die Themen, die in den Romanen verhandelt werden, universal sind und nicht nur für eine Epoche stehen. Stattdessen tauchen sie immer wieder auf, beschäftigen uns in anderen Zusammenhängen. Daran erkennt man z. B. auch, wie visionär Frisch war, ob jetzt aufs Männer-, Frauen- oder Familienbild bezogen.
Um deine Frage zu beantworten: Ich glaube nicht daran, dass man in den sozialen Medien vor sich selbst fliehen kann. Der Versuch müsste eher immer der sein, sich wirklich intensiv mit seinen Taten, mit seiner Verantwortung auseinanderzusetzen. Das heißt eben, nicht nur vier Sekunden, bis das nächste Video kommt, nachzudenken, sondern in die Stille zu gehen und zu reflektieren, was die eigene Haltung, die eigenen Taten für Konsequenzen haben. Welche Verantwortung habe ich der Gesellschaft gegenüber?
Es ist im Moment gerade in Mode, auf seine Rechte zu pochen und nicht in seinem Wohlfühlradius eingeschränkt zu werden. Das ist mittlerweile das höchste Gut, noch höher als juristische Urteile. Die Menschen vergessen, dass auch sie eine Pflicht gegenüber der Gesellschaft haben. Es wäre also der bessere Weg, auf Reset zu drücken und sich verantwortungsvoll und als mündiges demokratisches Wesen zu begreifen. Zu erkennen, dass wir es in der Hand haben, wie wir zusammenleben wollen. Das fängt bei den Wahlen an, da braucht es neben dem Demokratieverständnis auch Verantwortungsbewusstsein. Und zwar nicht nur für sich, sondern auch für die Gesellschaft.
Die Suche nach dem eigenen Platz in der Gesellschaft, die Zugehörigkeit zu einer Gruppe, die hat zugenommen. Seit der Pandemie kann das auch eine abstruse Gruppierung sein, gerade dann, wenn es einem eigentlich darum geht, aufzufallen. Ich halte die sozialen Medien für die Krankheit unserer Gesellschaft. Hier können wirklich andere Identitäten kreiert werden, die mit der Wirklichkeit nicht nur nichts zu tun haben, sondern oft völlig konträr dazu verlaufen. Da findet eine Verschiebung in der Begegnung von Menschen und auch im Umgang miteinander statt.
Ich würde gern noch mal auf den Gedanken mit der individuellen Verantwortung gegenüber der Gesellschaft zu sprechen kommen. Ich habe keine Statistiken dazu, aber in meiner Wahrnehmung übernehmen manche Menschen ungern Verantwortung für ihr Handeln, weil das ja nicht immer so bequem ist. Da kann es auch mal unangenehm werden.
Ich glaube, das ist eine langjährige Entwicklung, dass wir uns auf diesen Punkt zubewegt haben. Und jetzt fehlen Alternativen, und da grätschen die Populisten dann rein. Die suggerieren, dass sie die Verantwortung übernehmen, die wir nicht tragen wollen. Sie bieten schnelle Entscheidungen und schnelle Lösungen für komplexe Themen an. Da spielen die sozialen Medien auch wieder eine große Rolle, weil die genauso funktionieren.
Es gibt keine komplexe Auseinandersetzung mit Sachverhalten oder Konflikten mehr, stattdessen wird das schnell abgehandelt. Das sind wir inzwischen gewohnt, das wurde uns lange Zeit antrainiert. Deswegen wollen wir jetzt schnelle Lösungen haben. Und genau da grätschen jetzt Populisten rein. Das ist gefährlich. Die Richtung, in die wir uns bewegen, die politische Situation, in der nicht nur wir, sondern die Welt sich befindet, die kann einen zur Verzweiflung bringen.
Und was tun wir gegen die Verzweiflung?
Ich möchte aufs Theater zu sprechen kommen, weil ich mich da sehr wohlfühle. Der Grund dafür ist auch, dass ich in diesem Ort eine große Chance sehe. Da können wir trainieren, uns einem Konflikt, einer Problematik oder einem Schicksal über eine längere Zeit auszusetzen. Das ist etwas ganz anderes als die sozialen Medien mit diesen wenigen Sekunden.
Wenn man das als Chance begreift, dann können wir das Ruder auch wieder in die andere Richtung rumreißen. Es hat jetzt lange gedauert, dass wir bei dieser Entmündigung angekommen sind. Es wird auch dauern, wieder den Spaß daran zu entfachen, sich zu bilden und sich seiner eigenen Verantwortung wieder bewusst zu werden.
Ich weiß, dass das ein mühevoller, unbequemer Weg ist. Das ist eine riesige Aufgabe. Aber sie ist doch alternativlos.

Weil du gerade das Theater angesprochen hast und ich weiß, dass es viele gibt, die sich davor scheuen: Geht es letztlich nicht auch darum, sich neuen, unbekannten Dingen auszusetzen? Das ist bei „Stiller“ ja nicht anders. Auch diesem Film muss man sich aussetzen, der ist nicht bequem. Da muss man mitdenken. Aber am Ende wird man eben auch damit belohnt, dass man viele neue Gedanken hat. Ist es nicht die Aufgabe von Kunst und Kultur, einen herauszufordern?
Absolut. Kunst fängt für mich da an, wo Kommunikation stattfindet. Also da, wo man sich nicht reinsetzt und berieseln lässt, sondern mit seiner Fantasie mitgeht. Ich weiß, dass es zum Film unterschiedliche Meinungen gibt. Das ist gut für den Film, dass er das anbietet. Er serviert keine fertige Kost, die man einfach nur runterschluckt. Der Film ist eckig, er arbeitet mit Rückblenden, verschiedenen Farbgebungen. Da muss man schon noch mitmachen. Durch einen Film wie „Stiller“ trainieren wir unsere Fantasie, unsere Empathie, unsere Sensibilität der gesellschaftlichen Entwicklung gegenüber.
Die Frage ist: Nimmt man das an? Ist es das, was man will? Wenn dir die Themen, die Max Frisch behandelt, nichts sagen, dann liegt das nicht an Frisch, dann liegt es an uns selbst. Weil wir da noch nicht hingeschaut haben. Man kann den Film mögen oder nicht, aber wir sind uns doch einig, dass er ein Angebot zur Auseinandersetzung macht.
Ich persönlich finde es wertvoll, wenn man gar nicht unbedingt einer Meinung ist. Diskussionen, die man führt, weil man verstehen und den anderen nicht überzeugen will, sind doch bereichernd.
Das sehe ich auch so. Wir waren in der Schweiz auf Kinotour, und da gab es nach den Vorführungen auch Q&As. Natürlich überwiegt da die positive Resonanz, allein schon deswegen, weil die Leute sich nicht vor die versammelte Mannschaft hinstellen und direkt im Anschluss sagen, dass sie den Film doof fanden. Aber die kritischen Äußerungen, die es gab, die haben wir mit äußerster Sorgfalt und Sensibilität behandelt, weil es darum geht, eine Diskussion zu entfachen.
Es sollte nie darum gehen, sein Fanlager zu verteidigen, auch wenn ich das Gefühl habe, dass wir mittlerweile Diskussionen auf diesem Niveau führen. Da ist man Anhänger einer Partei, eines Vereins, eines Menschen, und egal, was kommt, da wird blind gefolgt. In eine Diskussion sollte man doch aber reingehen mit dem Vorhaben, etwas mitzunehmen vom Gegenüber oder etwas zu lernen. Deswegen finde ich solche Wortmeldungen in jedem Fall einen Gewinn.
Das ist übrigens eine Qualität des Theaters gegenüber dem Film. Im Theater gibt es diese Berührungsängste weniger, weil die Debatten unerlässlich sind. Sie finden auch nicht immer statt, aber weitaus häufiger, weil das Erlebnis ein anderes ist. Du bist in direktem Kontakt mit den Leuten, während der Vorstellung, aber auch danach. Da ist die Hemmung nicht so groß. Und die Menschen sind noch inhaltlicher an der Auseinandersetzung orientiert. Da geht es nicht um dieses Stargedöns oder falsch verstandenen Respekt. Da geht es herrlich trocken um die Debatte.

Ich will jetzt keine Debatten zur offenen Ehe von Rolf und Sibylle mit dir führen, aber wir haben ja schon festgehalten, dass der Film hier einen anderen Weg als der Roman geht. Deswegen ist die Frage nach dem Verzeihen auch drängender. Wie verzeiht man im Leben?
Erstmal möchte ich sagen, dass wir viel mehr über die Beziehung der beiden gedreht haben, als letztlich im Film zu sehen ist. Im Film hat Rolf eine Affäre, führt Debatten mit seiner Frau über Liebe und die offene Ehe. Das wurde aus verkaufstechnischen Gründen vom Verleih alles rausgeschnitten, weil die Konzentration auf den beiden Protagonisten liegen sollte. Insofern muss ich den Regisseur schon ein bisschen in Schutz nehmen, weil der diese Komplexität durchaus gedreht hat.
Ich kann deine Frage zum Verzeihen nur in Bezug auf Beziehungen beantworten. Es braucht das Bewusstsein dafür, dass man die Person, die man liebt und der man Gutes will, nicht verändern kann. Man kann den anderen nur auf seinem Weg, in seinen Bedürfnissen und auch in seinen Fehltritten, in seinen gemachten Erfahrungen unterstützen.
Wenn man mit diesen Gedanken in eine Beziehung geht, dann fühlt es sich vielleicht gar nicht wie Verzeihen an, sondern wie eine Unterstützung. Aber ich gebe zu, das ist alles sehr theoretisch, und in der Praxis läuft das meistens nicht so glatt ab.
Vielleicht ist Verzeihen auch das Gegenteil von einem exklusiven Anspruch an das Gegenüber. Und vielleicht muss man, um eine Beziehung einzugehen, auch erst mal begreifen, wer man in der Welt ist. Wenn man sich mit sich selbst auseinandersetzt, seinem Verhältnis zur Gesellschaft, erkennt man sich. Dann überlegt man, was man möchte, auch wer man in der Gesellschaft sein will. Und dann erst kann man in Beziehung zu anderen treten.
Vielleicht kann man auch nur verzeihen, wenn man sein Ego loslässt?
Das ist ein spannender Gedanke. Aber ja, es ist zumindest in gewissen Momenten vorteilhaft, das eigene Ego loszulassen. Gerade uns Schauspielern wird aber natürlich nachgesagt, dass uns das besonders schwerfällt.

Würdest du denn nicht sagen, dass du im Schauspiel dein Ego loslässt? Ich verstehe den Gedanken von manchen, dass es Schauspielenden ums Ego geht, wenn wir über eigene Darstellung in den Medien sprechen, vielleicht auch über Erfolg. Aber im Moment der Arbeit, im Moment des Spielens, da kann es doch gar nicht um dein Ego gehen.
Absolut. Es gibt aber natürlich das Vorurteil, dass Schauspieler ehrgeizig sind, dass wir nur im Rampenlicht stehen und berühmt werden wollen. Im Spiel geht es darum aber gar nicht. Da geht es darum, mit allen Sinnen in der Situation, in diesem unmittelbaren Moment zu bleiben. Es ist, wie schon Goethe sagte: „Augenblick, verweile doch.“
Das ist für mich die Auflösung des Egos. Sich auszuliefern im Moment, verschwenderisch mit sich umzugehen. Bei mir ist da eigentlich immer nur ein „Ja“ ans Gegenüber. Ein „Nimm mich, ich stehe zur Verfügung, mach mit mir, was du willst“ – das ist mein Angebot. Ganz ohne eigene egoistische Agenda.
„Stiller“ läuft ab dem 30. Oktober in allen Kinos. Und wie schon angeboten: Schreibt mir gern, wie er euch gefallen hat und lasst uns ins Gespräch kommen. Denn vom Austausch profitieren wir ganz bestimmt alle.

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