Daniel Kehlmann Interview

Daniel Kehlmann: „Man stellt immer erst fest, wie mutig man ist, wenn man vor der konkreten Situation steht“

Hände hoch, wer noch nie einen Roman von Daniel Kehlmann gelesen, oder seine Serie über Kafka gesehen hat. Ich habe das Gefühl, um diesen Autor kommt man eigentlich gar nicht herum, wenn man gern Romane liest.

Ich hatte das große Glück, ihn auf dem HAY Festival in Wales für ein Interview treffen zu dürfen und anschließend auch beim Talk über sein Buch „Lichtspiel“, das unter dem Titel „The Director“ gerade auch auf Englisch erschienen ist, dabei zu sein. Bevor ich euch mehr vom Gespräch und den Umständen berichte, hier erstmal das Interview.

Herr Kehlmann, schön, dass wir uns treffen. Mich hat das grundsätzliche Thema Ihres Buches sehr angesprochen. Zum einen, weil mein Opa in Buchenwald war, aber auch, weil die Frage, wie man seinen Weg in einem unmenschlichen System findet mich beschäftigt. Was hat Sie dazu bewogen, „Lichtspiel“ zu schreiben?

Daniel Kehlmann: Es beschäftigt einen ja immer. Mein Vater war auch in einem Konzentrationslager, für drei Monate in Maria Lanzendorf, einem Nebenlager von Mauthausen. Aber das wäre für das Buch gar nicht nötig gewesen. Als deutschsprachiger Autor hat man ja einen unmittelbaren Zugang zu diesem Thema und diesem Material. Man fragt sich immer, ob man irgendwann mal darüber schreiben wird. Die Geschichte von G. W. Pabst, diese seltsam umgekehrte Immigrationsgeschichte, war so ungewöhnlich, dass das ist mein Zugang war, um dann darüber zu schreiben. 

In Ihrem Buch vermischen sich Fiktion und Realität. Wie finden Sie da eine gute Balance? Oder ist das vielleicht gar nicht so wichtig?

Doch, das ist das Entscheidende! Aber da gibt es keine allgemeine Regel. Man erzählt einfach das, wovon man denkt, das wäre wahrscheinlich unmöglich so gewesen. Natürlich muss es eine Geschichte sein, die als Geschichte Sinn ergibt. Aber das muss man mit seinem eigenen Sinn von Richtigkeit und Angemessenheit ausmachen. Da gibt es keine generelle Regel.

Können Sie ein bisschen erzählen, wie die Recherche für „Lichtspiel“ abgelaufen ist.  Wie viel Zeit haben Sie sich dafür genommen? Und wie entscheiden Sie, was Sie vielleicht gar nicht wissen müssen, weil es der Fiktion hinderlich ist?

Ich versuche, alles rauszufinden, was ich herausfinden kann. Über Papst selbst ist ja nicht sehr viel veröffentlicht worden. Aber es gibt natürlich auch noch Archive. Es gibt die Deutsche Kinemathek, wo die Briefe der Familie liegen, soweit sie der Kinemathek übergeben wurden. Und es gibt das Bundesarchiv, wo sehr viele offizielle Unterlagen liegen, u.a. auch die ganzen Gestapo-Akten, die der Vorgang so mit sich gebracht hat. Das habe ich mir natürlich alles angeschaut. 

Es  interessiert einen dann ja auch. Man will ja so viel wissen wie möglich, und diese Akten sind ja hochinteressant.

Haben Sie auch über Ihren Vater recherchiert? Sie haben ihn gerade erwähnt, und mir geht das noch nach. Ich habe das Gefühl, jede Familie, bei der jemand im KZ war, hat einen ganz eigenen Umgang mit dieser Vergangenheit.

Über meinen Vater musste ich nicht recherchieren, weil der ja noch bis 2005 gelebt hat.

[Er überlegt] Vielleicht hätte ich das tun sollen, vielleicht wäre das interessant. Aber bisher habe ich nichts über ihn recherchiert. Ich habe mir einfach gut gemerkt, was er mir erzählt hat. Das ist mir sehr präsent. Aber das ist eigentlich wahr, ich könnte mir darüber hinaus auch mal Akten ansehen. Ich habe das bisher gar nicht in Erwägung gezogen.

Und das ist ja auch völlig in Ordnung. Ich kam nur darauf, weil mein Opa sehr wenig darüber gesprochen hat, und ich vieles nur über Akten entdecke.

Das verstehe ich. Mein Vater hat sehr viel drüber gesprochen, insofern hatte ich nicht das Gefühl, dass mir da Informationen fehlen. Das wäre natürlich jetzt trotzdem interessant. Ich überlege mir das mal.

Daniel Kehlmann Interview
© Rowohlt

Ich habe angefangen über das Arolen Archive über meinen Opa zu recherchieren, und trotzdem ich natürlich wusste, dass er in Buchenwald war, hat mich das sehr mitgenommen, dann diese Akten zu finden.

Klar, weil es diese komische offizielle Seite des Ganzen ist. Diese Akten, die haben immer was ganz Unheimliches, weil die Nazis auch so gerne Akten geführt haben. Es ist unglaublich, dass ein Verbrechen immer in Akten festgehalten wird.

Ganz viele von uns sagen „Nie wieder! Sowas kann und darf nie wieder passieren“. Mich treibt die Frage um: Wie weit gehen wir denn wirklich über unsere Bequemlichkeit hinaus?

Das ist eine Frage, die wir uns immer wieder stellen müssen. Man kann nicht einfach sagen: „Ach das weiß ich ja nicht“ oder „Wer weiß das schon“. Man muss hoffen, dass man das Richtige getan hätte und darf diesen Anspruch an sich nicht aufgeben.

Wie ist das denn bei Ihnen? Positionieren Sie sich nur über Ihre Literatur, oder werden sie auch deutlicher?

Ich lebe ja gerade in Amerika und gebe jetzt viele Interviews über die katastrophale politische Lage und die Diktatur, die dort beginnt. Ich bin auch nur auf einem Visum dort. [Das heißt] es könnte mir weggenommen werden. Aber dann ist das halt so. Es ist schon eine Frage, wo sich das persönlich auch stellt. Aber das Risiko gehe ich auch ein.

Das heißt, Ihr Protest ist Ihnen wichtiger als Ihr Status?

Ja, das ist wichtiger. Allerdings ist natürlich auch immer wieder die Frage: Wie groß ist die Gefahr? Ein weggenommenes Visum ist unangenehm, aber natürlich ist das noch keine Verhaftung.  Man stellt immer erst fest, wie mutig man ist, wenn man vor der konkreten Situation steht.

Wie empfinden Sie Ihr Leben jetzt in den USA? Ist es anders als noch vor einem Jahr?

Ja, es ist bestürzend. Es ist definitiv anders. Man weiß, dass jeder ICE-Agent, der irgendwie Lust drauf hat, einen eigentlich ausweisen könnte. Die Tatsache, dass da jetzt Leute auf der Straße verhaftet werden und dann in einem Gefängnis in El Salvador verschwinden –  und zwar auf immer – das nimmt einen wahnsinnig mit. Das spürt man, das liegt wie ein Schatten auf einem, und wenn man das Land verlässt, atmet man auf, wenn man da draußen ist.

Ich weiß, dass ich nicht auf der Straße verhaftet werde. Das betrifft hauptsächlich Menschen, die ganz anders aussehen, in anderen Teilen des Landes, aber es betrifft natürlich trotzdem absolut jeden.

Da kommen wir aber auch wieder auf den Punkt zurück, dass man sich seiner Privilegien sehr bewusst wird.

Genau. Denn natürlich ist es auch ein Privileg, zu sagen: „Nehmt mir halt mein Visum weg, mir ist das egal“. Ich kann nach Berlin gehen. Viele können das nicht. Das wird einem dann sehr bewusst.

Glauben Sie, dass das Ihr zukünftiges Schreiben beeinflussen wird?

Alles, was eine irgendwie intensive Erfahrung ist, beeinflusst das Schreiben. Also wird das wohl auch so sein. Aber ich weiß noch nicht in welcher Form. Ich werde sicher keinen Amerikaroman schreiben, dafür sind die Amerikaner zuständig.

Jetzt sprechen Sie ein neues Buch an.  Wie viel Druck verspüren Sie eigentlich, was den Erfolg Ihrer Bücher angeht?

Ach, das ist nicht so schlimm. Ich hatte ja ein Buch, das so erfolgreich war, dass ein weiteres nie wieder so erfolgreich sein kann. Damit habe ich vollkommen meinen Frieden gemacht. Ich empfinde den Erfolg vor allem als etwas, was mir Freiheit gegeben hat, zu tun, was ich möchte.

Ist das schwer gewesen, das eigene Ego loszulassen?

Nein. Es hat mich ungefähr ein Jahr, nachdem „Die Vermessung der Welt“ erschienen ist, beschäftigt. Aber das ist 2005 erschienen. Das ist jetzt 20 Jahre her. Inzwischen habe ich völlig meinen Frieden gemacht. Sonst hätte ich auch gar nicht mehr weitermachen können. Ich habe dieses Gefühl eines Wiederholungsdrucks komplett überwunden.

Und was motiviert Sie weiterzumachen? Ist es, dass Sie eine Idee im Kopf  haben und diese in die Welt tragen möchten?

Ich möchte einfach schreiben. Das ist das, was ich gerne mache. Ich mache das einfach gerne, und dadurch stellt sich für mich gar nicht die Frage, weitermachen oder nicht. Ich kann mir ein glückliches Leben, indem ich nicht schreibe, gar nicht vorstellen.

Das kann ich sehr gut verstehen. Es ist das Befriedigendste, was man im Leben erreichen kann.

Ja total! Etwas zu machen, was man wirklich machen möchte, und etwas zu schaffen, das man schaffen möchte, das ist ganz groß. Das ist ein echtes Privileg, das im Leben zu haben.

So geht es mir auch. Für mich ist Schreiben das Allerwichtigste, und ich würde es auch tun, würde ich nicht dafür bezahlt werden.

Das ist bei mir exakt das Gleiche! Es war auch immer so. Dadurch ist der Erfolg dann eine nette Belohnung, aber es ändert nichts Fundamentales. Die Leute denken ja, man macht das wegen des Erfolgs, aber das war und ist wirklich nie der Fall. Aber natürlich freut es einen [wenn der Erfolg dann kommt].  

Ich freue mich wie immer über euer Feedback: Welche Frage hätte ich (noch) stellen sollen?

Daniel Kehlmanns neusten Roman „Lichtspiel„* (sowie alle anderen seiner Bücher) findet ihr im Buchhandel oder der Bibliothek eures Vertrauens.

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