Interview mit Katrin Eigendorf von Andrea Zschocher

Katrin Eigendorf: „Es gibt keine objektive Wahrnehmung“

Man sagt ja immer „never meet your heroes“, weil das mit einer Enttäuschung einhergehen könnte. Und auch wenn ich an Held*innen so ganz allgemein nicht glaube, natürlich gibt es Menschen von denen ich (beruflich) auch inspiriert werde. So jemand ist Katrin Eigendorf. Ich mag ihre Art der Berichterstattung, ich mag ihren Blick auf unseren Beruf und, dass sie in den Mittelpunkt rückt, dass ohne Teamwork vieles nicht so gut funktioniert.

Am meisten aus dem Interview mit Katrin Eigendorf ist bei mir hängengeblieben, dass wir konstruktiven Journalismus brauchen. Ich bin davon auch überzeugt, muss aber auch anerkennen, dass meine schreibende Realität oft eine andere ist. Vielleicht auch noch mal eine Grundlage für ein weiteres Gespräch. Jetzt wünsche ich euch aber viele neue Erkenntnisse mit diesem Interview.

Warum brauchen wir den Journalismus heute unbedingt?

Katrin Eigendorf: Ich glaube, wir brauchen Journalismus, um es zu schaffen, die komplexe Realität, die wir nicht immer nur in den direkten Zusammenhängen erleben können, ein bisschen besser verstehen zu können. Wir leben in einer Welt, in der die Verbindungen immer enger werden, durch verkürzte Transport- und Kommunikationswege, sodass der sprichwörtliche Sack Reis in China, der uns vielleicht vor 50 Jahren noch überhaupt nicht interessieren musste, mittlerweile eine Auswirkung darauf haben kann, ob wir unseren Arbeitsplatz behalten. Das ist die ökonomische Sicht.

Wenn z. B. Kriege geführt werden, hat es natürlich auch eine Auswirkung auf unser Leben. Denn wenn auf einmal eine Million Flüchtlinge in Deutschland ankommen und die eventuell auch in meiner Gemeinde untergebracht werden, betrifft mich das. Wir können unser Wissen über das Zusammenleben nicht mehr nur aus dem direkten Erleben, unsere Vorstellung von der Welt, beziehen. Deswegen ist professioneller Journalismus schon ein Mittel, das ein bisschen mehr zu erreichen. Wir brauchen professionellen Journalismus auch, um zuverlässig recherchierte, auf Fakten basierte Informationen zu erhalten.

Interview mit Katrin Eigendorf von Andrea Zschocher
©ZDF / Max Sonnenschein

Komplexität ist ein ganz wichtiger Faktor. Denn sobald es ein bisschen komplizierter wird, verlieren wir viele Menschen. Sie schalten ab, weil sie Sachen nicht verstehen und Angst vor Nachfragen haben. Es gibt auf komplexe Fragen leider nicht immer einfache Antworten. Wie kriegen wir das hin, dass wir Leute gut abholen, auch wenn die sich im ersten Moment vielleicht überfordert fühlen?

Indem jeder Journalist anfängt, sich mit der Funktionsweise des menschlichen Gehirns zu beschäftigen und zu verstehen, wie Menschen wahrnehmen und wie Menschen lernen. Die Hirnforschung lehrt uns, dass Menschen Dinge nicht lernen und nicht verstehen, wenn sie dazu keinen emotionalen Bezug haben. Diese Erkenntnisse hatte man vor 30 Jahren im Detail noch nicht, weswegen ich glaube, dass wir unseren Journalismus anpassen müssen.

Menschen lernen auch nicht, wenn sie sich bedroht fühlen und Angst haben. Unter Bedrohung übernimmt das Alarmzentrum unseres Gehirns, die Amygdala die Kontrolle. Alles, was jetzt nicht unmittelbar relevant ist für Flucht, Kampf oder Erstarren, wird ausgeblendet. Die Bereiche des Gehirns, die für Abwägung, Empathie und Perspektivwechsel zuständig sind, treten in den Hintergrund. Denn verstehen kann der Mensch nur aus einer Situation heraus, in der er nicht im Stress ist. Und diese Faktoren, glaube ich, müssen wir in den Journalismus mit einbeziehen, wenn wir gute Berichte machen wollen.

Um es konkret zu machen: Wenn ich über einen Krieg berichten will, muss ich darauf achten, dass ich nicht nur das Frontgeschehen zeige, gegenseitige Angriffe. Es ist wichtig, die Geschichten von Menschen zu erzählen, von mir aus auch von Kämpfern.

Das, was uns mit diesen Menschen verbindet, das müssen wir zeigen. Denn wir Menschen haben eine Verbindung miteinander. Wenn ich das über den emotionalen Weg mache, wenn ich auch als Reporter bereit bin, mein Herz UND meinen Verstand einzusetzen in der Form, wie ich versuche, Realität abzubilden, ist das schon etwas ganz anderes. Ich glaube, damit erreicht man mehr Menschen. Diese Form von Berichterstattung hat auch den Ansatz, konstruktiv zu sein.

Auch das wissen wir aus der Hirnforschung und aus der Psychologie: Wir sind nicht unsere Gedanken! Wir können unseren Blick auf die Welt auf etwas Positiveres adjustieren als das, was im Moment der Mainstream scheint. Denn der befeuert eher die Sorge, dass die Welt untergeht.

Es gibt ja inzwischen ein Umdenken: Immer mehr Medien streben sogenannten „Konstruktiven Journalismus“ an. Das müsste sich mehr durchsetzen.

Das ist so ein total wichtiger Punkt! Ich bekomme öfter das Feedback, dass ich in Interviews zu wenig objektiv bin. Den Vorwurf, sich gemein mit einer Sache zu machen, den hast du bestimmt auch schon bekommen. Aber niemand kann 100 % objektiv sein, und in vielen Fällen ist das auch gar nicht zielführend. Ich glaube viel eher, dass wir dahinkommen müssen, dass wir Geschichten von Menschen erzählen und herausstellen, was uns verbindet.

Jeder Mensch nimmt die Realität subjektiv wahr. Es gibt keine objektive Wahrnehmung! Der Fehler, auch im Journalismus, ist, vorzugaukeln, dass es das gibt. Aber ich bin kein Berichterstattungsroboter, sondern ich bin ein Mensch. Um auch hier noch mal in die Hirnforschung zu schauen: Unser Gehirn macht nichts anderes, als Voraussagen zu treffen. Das heißt, wenn ich schon mal gelernt habe, wenn es knallt, dann ist das vielleicht eine Rakete, dann werde ich vielleicht auch bei einem Feuerwerk zusammenzucken.

Genauso ist es, wenn ich raus in die Welt gehe und über Dinge berichte. Je mehr Erfahrung ich mit Situationen habe, desto mehr kann ich aus dieser Situation, in der ich Menschen erlebe, etwas transportieren, was für uns alle relevant ist. Und das muss auch nicht nur das Schlechte sein. Wir gucken immer auf dramatische Situationen. Als Beispiel nehme ich jetzt nicht nur Israel. Schauen wir doch auf die Situation der Menschen in Afghanistan: Es ist immer nur negativ – Frauen werden unterdrückt, ihnen wird die Möglichkeit auf Bildung genommen. Das stimmt. Aber guck doch auch mal auf das Positive. Wo in der Welt haben Menschen eine solche Leidenschaft, etwas lernen zu wollen, dass sie sogar in Untergrundschulen gehen und ihr Leben riskieren?

Wie viel kann ich über Selbstorganisation und Resilienz von Ukrainern lernen? Wie viel kann ich von der Bedeutung sozialen Zusammenhalts und der Bedeutung, als Menschen füreinander einzustehen, von Israel lernen? Das ist ein Phänomen, das dieses Land, diese Gesellschaft, trägt, natürlich auch mit all seinen negativen Konsequenzen. Wer nicht zur Familie gehört, der wird dann eben nicht mitgetragen. Aber wir müssen nicht immer nur das Negative zeigen. Das zu erreichen, diesen konstruktiven Journalismus, das finde ich enorm wichtig.

Wir können etwas lernen von Menschen in anderen Ländern. Wir müssen nicht immer darauf schauen, als wären das andere Menschen als wir, als wären das Menschen, die nichts mit uns gemein haben. Nein, sie wollen alle das Gleiche wie wir: in Frieden leben, vielleicht eine Familie gründen, Kinder haben, denen es einmal besser geht. Das sind ganz simple menschliche Wünsche. Es ist schon ein bisschen postkolonialistisch, dass man manchmal glaubt, dass das z. B. im Iran nicht so wäre. Da gibt es die Annahme, dass es dort einen anderen Weg, einen anderen Ansatz gäbe. Von wegen: „In diesem Land sind Menschenrechte halt nicht so wichtig, und das muss man auch verstehen.“ Ich halte das für total falsch.

Interview mit Katrin Eigendorf von Andrea Zschocher
© ZDF/Katrin Eigendorf

Du hast gesagt, konstruktiver Journalismus kann ein Weg sein. Im gesamten Medienerleben macht dieser Journalismus einen verschwindend geringen Anteil aus. Hast du eine Idee, wie wir positiver berichten könnten und Menschen auch erreichen?

Da braucht es einen Perspektivenwechsel und gedankliche Disziplin. Es ist Teil unserer journalistischen Ausbildung, immer auf das Negative zu gucken, immer auf das Ungewöhnliche und Sensationelle. Das kriegen wir praktisch mit der Muttermilch eingeflößt: „Hund beißt Mann“ ist keine Geschichte. „Mann beißt Hund“ sehr wohl.

Aber manchmal kann auch das andere die Geschichte sein. Denn was die Geschichte ist, misst sich nicht am Grad der Normalität oder Absurdität, sondern an dem, wie weit das unser Leben beeinträchtigt und beeinflusst. Deswegen ist es wichtig, nie die Perspektive einzufrieren auf etwas, sondern flexibel zu bleiben. Wir brauchen flexible Perspektiven auf die Dinge. Nur so können wir das leisten, was meiner Auffassung nach die Aufgabe von Journalisten ist.

Du bist Journalistin, aber ich lese immer wieder auch, du seist Kriegsberichterstatterin. Was für ein furchtbares, massives Wort!

Ich bin keine Kriegsberichterstatterin! Während Corona hatten wir ein ganzes Volk von Impfspezialisten. Natürlich hatten wir auch sehr viele journalistische Impfspezialisten. Jetzt sind alle Waffenkenner und wir reden über die Funktionsweise von deutschen Panzerhaubitzen, als ob das ein Dampfkochtopf wäre.

Jeder Reporter, der einmal in der Ukraine war, wird jetzt Kriegsberichterstatter genannt. Ich habe mit dieser Bezeichnung ein Problem. Ich sehe mich so nicht. Ich bin internationale Sonderkorrespondentin des ZDF und damit zuständig für die internationale Berichterstattung meines Senders. Natürlich berichte ich momentan vor allem über Krisen und Konflikte, und dazu gehören auch Kriege.

Was soll eine Kriegsberichterstatterin eigentlich sein?

Das klingt auch so, als würdest du den Kriegen hinterherfahren, damit dir die Arbeit nicht ausgeht. Dabei wünschen wir uns, es gäbe von den Kriegen nichts mehr zu berichten, weil sie alle beendet sind.

Es gibt dann immer noch genug zu berichten! Ich bin ja nicht auf Kriege abonniert. So ein Label wird einem immer schnell angehangen. Manche hängen es sich auch selber an. Aber das ist nicht mein Verständnis von dem, was mein Job ist.

Du wurdest bereits vielfach ausgezeichnet. Wie ist das, gibt dir das eine Befriedigung, weil du sagst: Schaut, ich habe eine gute Arbeit gemacht, oder brauchst du das nicht, weil dir andere Dinge wichtiger sind?

Doch, das ist schon wichtig. Nicht, um zu wissen, ob ich eine gute Arbeit mache, das müssen die Zuschauer beurteilen. Die Auszeichnungen sind eher eine Versicherung und auch eine Stütze. Der Journalismus, den ich mache, wurde ja nicht immer so anerkannt. Ich wurde für meine Berichterstattung aus der Ukraine massiv kritisiert. Das waren nicht nur russische Trolle im Netz, wo ich als Lügnerin bezeichnet, wurde, als russophob, als Faschistin, als jemand, der völlig auf der Seite der Ukraine steht.

Dann eine Anerkennung zu bekommen, die sagt: „Deine Berichterstattung war gut“, ist Mut machend. Heute nehme ich das als Mandat: Ich besinne mich auf genau das, wofür ich eigentlich ausgezeichnet wurde. Und das ist: die Wahrheit zu berichten. Wenn es dafür ab und zu eine sprichwörtliche blutige Nase gibt, dann gibt’s die eben. Ich habe das oft genug erlebt. Ich glaube aber auch, dass das Risiko durch die Preise geringer geworden ist. Sie funktionieren ein bisschen auch wie ein Schutz.

Der Ehrlichkeit halber muss man aber auch sagen: Wenn es um die Auszeichnungen geht, bin ich nur das Aushängeschild für die Arbeit meines großartigen Teams. Für keinen Film, keine Live-Schalte zeichne ich alleine verantwortlich, Fernsehen, und auch Journalismus ist Team-Work. Was oft in Vergessenheit gerät ist der enorme Anteil, den unsere lokalen Producer in den Ländern haben.

Du bist die, die den Preis entgegennimmt. Dahinter steht ein Team. Ich glaube auch, dass niemand Dinge wirklich allein schafft. Wir brauchen Menschen, die dabei sind und uns unterstützen.

Ja, auf jeden Fall. Ich habe ein paar Kollegen, die sind unverzichtbar. Mit denen arbeite ich immer zusammen. Neben meinen tollen Kollegen und Kolleginnen vor Ort gehört zu meinem Team auch mein Kameramann Timo Bruhns. Ohne seine tolle Kameraarbeit, ohne dass der immer wach bei den Geschichten dabei ist, mitdenkt, würden die Geschichten auch nicht gut werden.

Interview mit Katrin Eigendorf von Andrea Zschocher
©ZDF / Max Sonnenschein

Was ist eine Schlagzeile, die du gern verkünden wollen würdest? Sie darf nicht lauten: Alle Kriege auf der Welt sind vorbei, weil das aktuell leider eine Illusion ist.

[Sie überlegt] Die Staatengemeinschaft hat sich endlich zu einem handfesten Durchbruch in Sachen Klimaschutz verständigt. Dieser ist greifbar und sofort umsetzbar. Das gilt zum Beispiel beim Schutz des Regenwaldes. Da müssen die Staaten, die den CO₂-Ausstoß maßgeblich verursachen, mehr Aufgaben übernehmen. Für mich wäre ein Durchbruch in Sachen Klimaschutz ein klares Commitment, etwas, was die Welt ein Stück weit besser machen würde.

Viele Kriege kann man ohne den Kampf um Ressourcen gar nicht sehen. Wir können nicht weitermachen damit, unseren Lebensraum zu vernichten. Das ist der schlimmste Krieg, den wir führen – dass wir unseren Lebensraum selbst vernichten, dass wir gegen uns selbst kämpfen. Natürlich tun das nicht alle Staaten in gleichem Maße, deswegen müssen die, die es tun, mehr dagegen tun.

Reportagen und Updates von und mit Katrin Eigendorf findet ihr immer wieder im laufenden Programm der Öffentlich-Rechtlichen. Ihre Reportagen u.a. fürs auslandsjournal zum Thema „frontlines: Tel Aviv – Metropole im Krieg könnt ihr auch in der ZDF Mediathek anschauen.


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