Hanno Olderdissen kenne ich vor allem als Regisseur der beiden neuen „Lassie“-Filme. Die waren bei meinen Kindern der Hit, ich habe sie weit öfter gesehen, als viele andere. Zeigt ja nur, dass ihnen (auch) Hannos Arbeit gut gefallen hat. Sein neuster Film ist aber nicht für Kindern, sondern für alle, die mal eine neue Sichtweise kennenlernen wollen.
Was möchtest du bei den Zuschauenden erreichen? Was hoffst du, dass „Ganzer halber Bruder“ bei ihnen auslöst?
Hanno Olderdissen: Ich hoffe, dass die Zuschauer sich zuallererst sehr gut unterhalten fühlen. Sie dürfen auch gern ein wenig be- und gerührt aus dem Film kommen. Wenn sie im zweiten Schritt dann vielleicht noch darüber nachdenken, welche Erfahrungen sie mit Inklusion haben und warum das immer noch nicht in unserer Mitte angekommen ist, dann ist viel gewonnen. Aber erstmal ist es ein unterhaltsamer Film, der Leute zum Lachen und auch ein bisschen zum Weinen bringen möchte.
Ich finde gerade diesen Inklusionsaspekt total gut, weil ich gemerkt habe, wie ich bei manchen Dingen ganz sprachlos werde. Was tun wir gegen die Sprachlosigkeit?
Das ist ein guter Punkt. Da sind wir alle ein bisschen geprägt, haben mehr oder weniger Berührungsängste. Ich glaube, dass sich da auch ganz viel tut. Im Alltag ist Inklusion noch längst nicht so selbstverständlich, wie sie sein sollte. In anderen Ländern finden z. B. auch erwachsene Menschen mit Down-Syndrom sehr viel mehr statt, weil es da andere Regelungen gibt. Da werden auch für sie in größeren Unternehmen Arbeitsplätze geschaffen.
Meine Kinder werden z. B. schon in der Grundschule in inklusiven Klassen unterrichtet. Die gehen da ganz anders, viel unaufgeregter mit um. Ich hoffe, die nachfolgenden Generationen haben ein anderes Bewusstsein und eine andere Selbstverständlichkeit für diese Themen. Und für uns und ältere Generationen ist es wichtig, dass wir respektvoll gegenüber dem Thema sind, aber auch humorvoll. Beides versucht der Film ja auch.
Aber können wir, so wir denn nicht behindert sind, wirklich bestimmen, wie viel Humor okay ist?
Bei unserem Film gibt es zwei Aspekte, warum ich denke, dass wir auf der richtigen Seite sind, wenn ich das so sagen darf. Zum einen hat Clemente [Fernandez-Gil, der Drehbuchautor] einen Sohn mit Down-Syndrom und deswegen einen ganz anderen Zugang zu diesem Thema, als wenn ich mir das über Recherche erarbeitet hätte.
Zweitens machen wir uns im Film nie über Roland „Sunny“ [gespielt von Nicolas Randel] lustig, sondern immer nur über Thomas [gespielt von Christoph Maria Herbst]. Das war auch Clementes Ansatz beim Schreiben.
Wir merken, dass Thomas emotional und von seiner Situation her sehr viele Defizite hat. Roland hingegen ruht sehr in sich. Der hat seine Arbeit, seine Musik, sein Hobby und seine Mutter. Die liegt jetzt im Krankenhaus, aber das ist erstmal ja auch kein Problem. Er besucht sie, spielt ihr Musik vor. Er ist viel ruhiger.

Ich habe mir ein paar Sätze aufgeschrieben, an denen ich hängen geblieben bin. „Das verstehst du nicht. Du bist behindert“. „Behindi“, oder „Solche wie er“. Das tut beim Zuhören weh. Wie war das für euch am Set?
Wir haben da gar nicht so viel nachgedacht, denn wir kannten diese Sätze schon so lange. Ich weiß, dass „Behindi“ ein Kompromiss war. Denn Michael Ostrowski, der auch einen erwachsenen Sohn mit Down-Syndrom hat, hat gesagt, dass er das, was eigentlich im Drehbuch stand, nicht über die Lippen bekommt. Wir haben uns dann auf „Behindi“ geeinigt. Ich finde das in der Szene dann auch gut gelöst. Er sucht ja in ihr lange nach einem Wort.
Dass uns die Begrifflichkeiten fehlen, das ist ja etwas gesellschaftlich Interessantes. Der Film erzählt das auch mit, dieses Rumeiern, was wir da alle mit haben.
Jetzt steckt ein wichtiges Thema schon im Titel des Films, „Ganzer halber Bruder“. Thomas kennt Familie, kennt Geschwister nicht, muss erst kennenlernen, was Familie bedeuten kann. Was bedeutet Familie für dich?
Familie ist ein vielschichtiges Thema. Es gibt die Herkunftsfamilie, die einen sehr prägt, auch wenn man das erst später versteht. Je älter ich werde, desto mehr merke ich, wie meine Familie, in der ich aufgewachsen bin, mich geprägt hat.
Gleichzeitig lerne ich sehr viel von meinen Kindern, auch über das Vatersein. Man versteht das alles aber immer nur ein bisschen zeitversetzt.
Ich finde, wir sollten den Begriff Familie aber auch weiter fassen als nur die biologische Familie. Es gibt ja auch Menschen, für die das, aus was für Gründen auch immer, kein Modell ist. Diese Menschen bilden doch aber auch Familien. Wir sind soziale Wesen und bilden immer Banden. Tiefe Freundschaften, die einen über Jahrzehnte begleiten, das sind doch auch familienartige Konstrukte.

Einer der für mich schönsten Sätze in dem Film lautet: „Roland hat diese Gabe. Es ist die Fähigkeit, glücklich zu sein“. Was ist deine Gabe?
Ich bin nicht so ein besonderer Mensch wie Roland. Ich bin ja auch keine Filmfigur. [Er überlegt]
Meine Gabe ist vielleicht, dass ich sehr ausdauernd an Filmprojekten arbeiten kann und dass es mir immer mal wieder gelingt, diese auch nach vielen Jahren zu realisieren. Vielleicht ist Hartnäckigkeit eine Gabe von mir.
Du hast auch die beiden neusten „Lassie“- Filme gedreht, ein großes Thema bei mir zu Hause. Wie unterscheidet sich die Arbeit an einem Kinderfilm denn von der für einen Erwachsenenfilm?
Die Arbeit an einem Kinderfilm hat ganz spezielle Bedingungen. Man arbeitet mit besonders schutzbedürftigen Menschen, die noch nicht volljährig sind. Daran geknüpft sind, zu Recht, sehr hohe gesetzliche Auflagen. Das macht die Arbeit ein bisschen komplizierter.
Ich finde, die Stimmung an einem Kinderfilmset ist oft spannender. Für die Kinder und Jugendlichen, die da am Set sind und vor der Kamera stehen, ist das ein großes Abenteuer, was sie da erleben dürfen. Das gibt einen ganz anderen Spirit fürs ganze Team. Auch Premieren bei einem Kinderfilm sind ganz besonders. Das Publikum versteckt sich nicht, sondern zeigt seine Emotionen.
Ich mache nach wie vor sehr gerne Kinder- und Jugendfilme, aber natürlich auch andere Sachen. Als Künstler, als Kreativer, möchte ich im Idealfall verschiedene Sachen ausprobieren.
Christoph Maria Herbst liest auch viele Hörbücher ein. Das habt ihr im Film ein bisschen drin. Was würdest du dir von Christoph vorlesen lassen?
Ich würde mir von Christoph gerne mal einen richtig bitterbösen Psychothriller vorlesen lassen.
Ich bin mit seinem Hörspielwerk gar nicht so vertraut, aber ich finde es wahnsinnig toll, wie Christoph mit seiner Stimme arbeiten kann. Das ist wirklich beeindruckend. Wir haben im Synchronstudio noch Aufnahmen gemacht, und da habe ich noch mal gesehen: Er ist nicht nur ein wirklich toller Komödiant und Schauspieler, sondern auch ein unheimlich guter Voice Actor.

Es gibt diese Szene im Cabrio, im Regen: Wie sehr hat das wehgetan, dieses Cabrio zu fluten?
Gar nicht. Das wurde gut ausgestattet mit Folie, und wir haben dann so gefilmt, dass man das natürlich nicht sieht. Das war unproblematisch.
Und was war dann problematisch? Es scheint, als hätte es da etwas gegeben.
Es gibt immer Probleme, wenn man einen Film dreht. Das gehört halt dazu.
Wenn man jeden Tag mit 60 Leuten in einer fremden Stadt und an unterschiedlichen Orten dreht, dann passieren natürlich logistische Pannen. Oder man merkt: Die Szene, die im Buch noch so gut klang, funktioniert einfach doch nicht. Einen Drehtag ohne Probleme gibt es nicht.
Es gibt dieses sehr schöne Zitat von Guillermo del Toro. Sinngemäß sagt er: „Directing is the art of orchestrating accidents.“ Das trifft es hundertprozentig.
Was magst du beim Drehen am liebsten?
Am meisten Spaß beim Drehen macht es mir, wenn ich die Szene mit den Darstellern probe und durch ihre Arbeit und das, was die Kamera macht, die Szene so lebendig wird, dass es nicht nur ein Abfilmen dessen ist. Wenn es sich stattdessen anfühlt, als würde die Szene zum Leben erweckt werden. Das kann man nicht planen und nicht verabreden, aber manchmal passiert es.
Aber ich drehe auch einfach gern. Ich mag dieses Wuselige, auch manchmal Chaotische, dass da so viele Menschen sind. Das ist auch stressig, aber es gibt mir auch eine unglaubliche Energie. Noch ein schönes und zutreffendes Zitat: „Man fühlt sich selten so lebendig und so tot wie an einem Filmset.“ [Er lacht].
Wie viel Pause brauchst du, nachdem du einen Film gedreht hast?
Das geht eigentlich relativ schnell. Man ist nach dem Drehen viel im Schneideraum, hat aber sein normales Leben mit Familie und Alltag auch wieder. Denn das Schneiden findet meistens in der Heimatstadt statt.
Dadurch, dass man sehr lange an einem Kinofilm arbeitet, bevor man den abschließen kann, hat man eigentlich eine ganz gute Regenerationszeit. Bei „Ganzer halber Bruder“ hatten wir Anfang Oktober Drehschluss, und ich habe den Film Ende Juni abgeschlossen. Da arbeite ich aber auch nicht mehr Vollzeit an dem Film.
Wie sehr tut es dir weh, wenn du Sachen aus dem Film rausschneiden musst?
Ich habe da kein großes Problem mit. Es gibt eigentlich bei jedem Kinofilm ein paar Szenen, die dann am Ende nicht im Film landen. Mir tut das vor allem für die tollen Darsteller leid, die man dann manchmal auch rausschneiden muss. Bei den Amerikanern, die natürlich auch mehr Geld haben, ist das viel radikaler. Da wird auch noch mal nachgedreht, wenn es sein muss.
Für den Film ist es wichtig, dass man wirklich streng guckt, ob diese Szene in den Film muss, ob sie eine Berechtigung hat. Man kann keine Szene drinlassen, nur weil man sie gedreht hat und es teuer war. Das ist der falsche Ansatz. Ich finde, das Ergebnis ist immer wichtiger, als dass man etwas Liebgewonnenes im Film lässt, was eigentlich keinen Platz darin hat.

„Ganzer halber Bruder“ läuft ab dem 18. September in den Kinos.
Wie schon im Interview mit dem Regisseur Hanno Olderdissen klar wird: Es geht auch um Inklusion. Das fand ich super, weil es das so selten im Kino gibt. Gern mehr davon! Und zwar so, dass es Teil der Geschichte ist, nicht ein Add-on, was man halt irgendwie auch noch abhandelt. Bei „Ganzer halber Bruder“ gelingt das sehr gut. Vielleicht, weil einige der Beteiligten selbst Erfahrungen mit Down-Syndrom haben. Was aber eigentlich auch schade ist, dass es immer nur dann klappt, wenn Betroffene selbst aktiv werden. Mich erinnert das auc an den Film „Ezra- Eine Familiengeschichte„*, wo das ähnlich war und ich lange mit Tony Goldwyn und Bobby Cannavale drüber gesprochen habe.
In „Ganzer halber Bruder“ geht es vor allem aber um eine Familie, die erstmal zu einer werden muss, trotz all der Herausforderungen, die das so mit sich bringt. Ich freue mich über eure Meinungen, nachdem ihr den Film gesehen habt.
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